11. November 2010

P | Andi

Gestern Abend habe ich Andi (Anm: Name geändert) kennengelernt. Um halb zehn Uhr abends bei meiner Heimfahrt vom Bahnhof nach Hause. Er lag auf dem Bürgersteig, die Krücken neben ihm und konnte aus eigener Kraft nicht mehr aufstehen. Auf meine Frage "Können Sie alleine aufstehen?" lallte er mir entgegen: "Bitte hüf ma!" Eine zu diesem Zeitpunkt hinzustoßende Passantin meinte daraufhin: "Lassts ihn liegen, der liegt da fast jeden Tag! Der ist aggressiv!" um nachzusetzen: "Geh ham Andi!" Das war mir zu viel. Ein Mann, der lallte und offensichtlich nicht mehr alleine aufstehen konnte, bei knapp 4 Grad nachts am Bürgersteig und eine Frau, die mich aufforderte ihn seinem Schicksal zu überlassen. Ich zögerte und blieb unschlüssig stehen.
Weitaus entschlossener handelte hingegen mein Freund. Mit einem großen Kraftakt packte er Andi von hinten und half ihm auf die Beine, die Dame reichte ihm die Krücken. In diesem Augenblick merkte ich, dass der Mann schwer gehbehindert war, er konnte sich kaum aus eigener Kraft auf den Beinen halten. Es folgte ein Gespräch und Diskussionen, die wirklich herzzerreißend waren. Andi bat uns ihn nach Hause zu bringen, um gleich darauf seine Meinung zu ändern und zu überlegen, wo er hinkönnte anstatt nach Hause. Er brach in Tränen aus, entschuldigte sich dafür, überlegte. Er hatte zwar getrunken, sein Lallen kam jedoch nicht daher wie ich merkte - er war geistig beeinträchtigt. Schlussendlich bat ich ihn mir sein Telefon zu geben, damit ich bei ihm zu Hause anrufen könnte, was er nach einer kurzen Denkpause mit einem misstrauischen "I gib da do ned mei Telefon!" abschmetterte. Ja, es waren durchaus auch spaßige Momente, die da passiert sind! Es wurde jedoch schwierig, als er mir auch nicht die Telefonnummer von zu Hause nennen wollte, damit ich dort von meinem Telefon aus anrufe, sondern wieder in Tränen ausbrach. Meine Schlussfolgerung war: Er hat Angst davor, was ihn zu Hause erwartet.

Schlussendlich fuhr mein Freund mit Andi gemeinsam in einem Taxi, das von alleine bei der Szene angehalten hat, zu ihm nach Hause, ich mit dem Auto hinterher. Seine Mama hatte ihn schon erwartet und meine Hypothese war schlichtweg falsch. Andi hatte keine Angst davor, zu Hause geschimpft zu werden. Er wollte seine Mama einfach nicht enttäuschen. Das war mein Lerneffekt Nummer eins an diesem Abend: Keine voreiligen Schlüsse ziehen!. Lerneffekt Nummer zwei: Die Unterstützung der These: Gewalt erzeugt nur Gegengewalt. Denn die Dame, die Andi die Krücken gereicht hat, hat mir beim Einsteigen Andis in das Taxi erzählt: "Wissen Sie, der war einmal ganz normal. Er war nur irrsinnig aggressiv und hat die Leut verprügelt. Und irgendwann haben sie sich zusammengetan und haben IHN verprügelt. So lange, bis er bleibende Hirnschäden davongetragen hat und ein kapputtes Bein." Ich frage mich noch immer: Wie können diese Menschen damit leben? Ich habe mir sagen lassen, so etwas geht sehr schnell. Von "verprügelt werden" bis zu bleibenden Schäden. Sollte das eine Entschuldigung sein? Und daher auch gleich Lerneffekt Nummer drei: Empathie gut, Abgrenzung ungenügend, denn auch einen Tag später beschäftigt mich Andi noch sehr. Muss ich noch lernen...

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