15. Oktober 2011

S | Prioritäten sortieren

Richard sieht auf „die Zeit“ auf meinem Arbeitstisch, die ich mir eben gekauft habe und die bereit liegt, um sie abends mitzunehmen. Ein höhnisches, weil neidvolles Grinsen erfüllt sein Gesicht als er meint: „Boah! Und du hast die Zeit die zu lesen?“. Zum damaligen Zeitpunkt machte sich ein zutiefst ehrliches Lächeln auf meinem Gesicht breit als ich meinte: „Klar!“

Vier Wochen später. Auf meinem Fensterbrett zu Hause liegen vier Exemplare der „Zeit“. Ungelesen. Nach dem Aufstehen blättere ich den „Standard“ neben einer Tasse brühend heißen Kaffes durch. Überschriften lesen. Interessante Artikel überfliegen. Ansprechende Jobangebote anstreichen. Und mir unzählige Male denken: Das muss ich mir später noch genauer ansehen.

Ich denke kurz an das letzte Jazzseminar dieses Jahr, an dem ich teilgenommen habe und an das Koffer packen davor. Ich mag es nicht zu packen. Beim Packen müssen permanent Entscheidungen unter Unsicherheit getroffen werden. Bei jedem Stück. Das Seminar war im Waldviertel, die gesamte Temperaturvielfalt Österreichs war also in dieser einen Woche an diesem Fleckchen Erde möglich. Multipliziert mit der Eventvielfalt (Sport, Alltagskleidung, Konzert) und meiner weisen Voraussicht ich könnte dann wutentbrannt vor dem Kasten stehen und „nichts Passendes“ finden, in dem ich mich wohl fühlte, ergab den Anruf bei meiner Mitfahrgelegenheit, ob er denn rund 2 Kubikmeter Platz im Auto nur für meine Sachen hätte. Hatte er. Ein Koffer Kleidung und Schuhe, ein Rucksack mit dem „Notwendigsten sonst noch“, ein Karton mit Lebensmitteln sowie ein Koffer mit Noten, Mikrofon, Kabel und – vier Ausgaben der „Zeit“, die ich damals nicht geschafft hatte rechtzeitig zu lesen… Déjà vu. Es erübrigt sich zu erwähnen, dass ich in dieser Woche die „Zeit“ nicht gelesen habe.

Sehe ich auf mein Fensterbrett liegen dort auch eine 300g Milka Alpenmilch Schokolade, eine 100g Milka Alpenmilch Schokolade, Manner-Schnitten und M&Ms. Meine Großmutter meinte nämlich bei meinen letzten Besuchen das sei „gut für die Nerven“. Tja. Vorbei sind die Zeiten, in denen ich im Vorzimmer stand, meine Mutter kurz bei der Hausarbeit beobachtete und nach Abwägung, ob die Konsequenzen meiner Äußerung die Aussage wirklich wert seien, meinte „Mama! Mir ist sooo faaaaaad!“. Oft folgte postwendend: „Das wirst du dir später in deinem Leben noch einmal wünschen!“. Nein. Ich kann mich noch gut in dieses Gefühl hineinversetzen und weiß, dass ich es mir nicht wünsche. Es würde heute auch gar nicht mehr in dieser Form aufkommen. Aber mehr Zeit hätte ich schon gerne. Wobei das eine absolut surreale Vorstellung ist, da Zeit ein abstrakter Begriff ist, der lediglich von uns konstruiert wurde, um Messbarkeit zu erzeugen. Das was hinter diesem Wunsch steckt, gehört meiner Meinung jedoch absolut in den Schulplan integriert!

1. Das Entdecken eigener Talente und die Anleitung wie man diese identifiziert ohne von sonstigen Mechanismen abgelenkt zu sein. Diese Mechanismen sind zum Beispiel Glaubenssätze. „Ich muss brav sein.“ „Ich will beliebt sein.“ Oder Ähnliches. Es geht nämlich schon sehr früh los, dass wir unsere Tätigkeiten eher von diesen lenken lassen als von dem, was uns wirklich Freude und Energie bringt.

2. Prioritäten festlegen lernen. Und damit leben lernen, dass eine Entscheidung für etwas Bestimmtes gleichzeitig auch eine Entscheidung gegen etwas Anderes ist. Bewusst. Und diese Entscheidungen und die Verantwortung dafür lieben lernen.

Wer mit so viel Vertrauen in sich selbst aufgewachsen ist, dass er sein Leben gleich nach diesen Prinzipien angehen konnte, hat einen mächtigen Vorsprung. Denn was wir machen und gleichzeitig lieben, brennt uns nicht aus. Wenn wir lieben, was wir machen, machen wir es so gut, dass wir langfristig keine Jobsorgen haben werden.

Aber manchmal ist es auch der Weg, der irrsinnig viel Freude mit sich bringt, ihn zu gehen. Das Glück zu empfinden mit einer Entscheidung wieder ein Stückchen vom wahren Selbst gefunden zu haben. Den Unterschied überhaupt zu spüren! Man darf nur nicht aufhören diesen Weg zu gehen. Wie oft habe ich schon gehört: „Oh, es tut mir so leid und ich finde es so schade, dass du etwas studiert hast, von dem du nicht überzeugt warst!“. Ich selbst habe das auch schon zu anderen gesagt. Vor Jahren. Dabei ist es keine vergeudete Zeit. Es ist lediglich ein anderes Tempo, das andere Lebenserfahrungen mit sich bringt. Es macht mir Freude diesen Weg zu gehen. Jede Gabelung bringt mich ein Stückchen weiter. 

Und nächste Woche habe ich mir eine Woche Zeit eingeplant – sicherheitshalber ohne Internet und Telefon. Um Prioritäten neu zu sortieren. Die jetzigen funktionieren nicht mehr. Denn „die Zeit“ muss gelesen werden. J

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