7. Juni 2011

P | Relevanz und Wiederholung im Lernen

4. Juni, bedeckter Himmel, angenehme, warme Temperatur. Der Wind peitscht mir beständig ins Gesicht als ich auf meinem Mountainbike mit Scheibenbremsen und 24-Gang-Schaltung ausgestattet Richtung Schloss Merkenstein radle. Die Tour fordert alles von mir, ich schwitze, keuche und mit jedem Tritt denke ich mir: Ich bin meinem Ziel schon näher!
"Duuuu, wir fahren gerade 5 km/h. Mein Rad kann 35!" sagt das Gesicht, das extra umgedreht hat und zurückgefahren ist, um mir diese bahnbrechende Mitteilung zu unterbreiten.

Szenenwechsel. Etwas früher an diesem Tag bei meiner Frisörin. Sie: "Du, ich glaub mit dem wachsen lassen wird das bei dir nichts. Deine Haare sind so komisch!" Ich: "Was meinst du mit komisch? Sie sind eben unten sehr dicht! Ich versteh nur nicht: Früher sind sie wirklich extrem schnell gewachsen, ich bin sogar darauf angesprochen worden beim Schneiden und jetzt lass ich sie schon drei Monate wachsen und es geht nichts weiter!" Sie: "Naja, du bist jetzt eben älter." .....

Fünf Tage zuvor bin ich 28 Jahre alt geworden. In der römischen Zahlendarstellung zeichnet man da schon rückwärts. 30 minus 2. Tja, der "Jugendlichen-Bonus" ist ausgespielt. Nun heißt es Verantwortung tragen für das eigene Tun und das Können zeigen, das man sich jahrelang antrainiert hat. Komischerweise hatte ich diese innere tiefe Überzeugung punktgenau am Tag X meines 28. Geburtstags. Eine erste Midlife-Crisis? Vielleicht. Eigenartig nur, dass ich zeitgleich auch das Gefühl hatte, die letzten 10 Jahre meines Lebens seien mindestens doppelt so schnell vergangen wie diejenigen zuvor. Was ist in meinem Lebensjahr Nummer 25 passiert? Keine Ahnung! Mit 16? Die erste große Liebe! 26? Weiß nicht. 17? So viele Erinnerungen! Vom abendlichen Ausgehen bis zu den Bällen, Tanzschule, Schulaufenthalte in Spanien und Frankreich.
Wie gut, dass ich Psychotherapie studiere und weiß, dass das nur die subjektive Wahrnehmung ist. Ich habe genauso viel Zeit wie immer. Eigentlich. Nur häufen sich die sich wiederholenden Ereignisse im Leben. Ich erlebe jetzt nicht mehr so viel Neues wie in den Jahren zuvor, deshalb funktioniert die Speicherung im Gehirn anders. Alles, was wir das erste Mal erleben und erfahren, wird vom Gehirn sehr präsent gespeichert. Als hätten wir eine Box, in die Erlebnisse X hineinkommen und zur schnelleren Erfassung kleben wir ein Foto von einem beispielhaften Exempel darauf. Evolutionstheoretisch natürlich sehr sinnvoll, denn wenn wir beim zweiten Mal, da wir einem Braunbären gegenüber stehen, erst überlegen müssten wie und wann denn das erste Mal war, hätten wir ein - sagen wir mittelgroßes - Problem. Auch das erste Mal Herdplatte angreifen bleibt uns durch Gefühle sehr klar gespeichert, dieses Wissen lebenswichtiger Informationen ist unmittelbar vorhanden.
Erlebnisse, die ähnlich einem waren, das wir bereits erlebt haben, kommen in die oben erwähnte Box mit dem Exempel-Foto vorne darauf. Und werden im einzelnen nicht mehr so einfach erinnert. Sie werden zu Gewohnheit. Jedes Erlebnis überspeichert das vorhergehende. Jeder Sonnenaufgang, den wir miterleben, lässt uns den "unvergesslichen" ersten auch ein wenig weiter in die Ferne rücken und ein wenig weniger unvergesslich machen. Tja. Dinge, die sie GENAU SO! in Erinnerung behalten möchten, sollten also möglichst nur ein einziges Mal gemacht werden. Heiraten. Paragliden. ;)
Paul Matussek, ein Psychiatrieprofessor aus München, der 2003 verstorben ist meinte dazu Folgendes: "Je intensiver ein Mensch seinen Alltag, seinen Beruf, sein individuelles Leben zu erneuern und aus öder Sterilität in eine schöpferische "Neugeburt" umzugestalten vermag, desto reicher und erfüllter wird er sein Leben erfahren. Womit Matussek dem von vielen als beängstigend und einschüchternd empfundenen Anpassungsdruck eine hellere psychische Farbe gibt." (http://derstandard.at/1308186302003/Beruflich-mithalten-Was-zukunftsfaehige-Koepfe-auszeichnet)

Auch unser Lernen funktioniert übrigens ähnlich: Wir merken uns Dinge, die für uns relevant sind, oder die wir genügend oft wiederholen. Und nichts anderes. Lehrer können sich weitgehend dafür entscheiden, welche Methode sie verfolgen wollen. Ich selbst habe Geschichte zum Beispiel überhaupt nicht gemocht. Jahreszahlen und Grenzverschiebungen haben mich genau überhaupt nicht interessiert, ich habe sie also wiederholt, bis ich sie bei der Prüfung wiedergeben konnte und danach war das Wissen weg. Wie bei einem Kellner, der einen Tisch fertig kassiert hat. Wusste er vorher noch genau, was welche Person zu trinken hatte, ist es in der Minute darauf weg. (Übrigens ebenfalls ein erforschtes psychologisches Phänomen). Relevant wurde Geschichte für mich erst durch Kunstgeschichte. Ich liebte es zu malen, es entspricht einem Talent von mir. Umso spannender fand ich es, dass die Industrialisierung, die Entwicklung des Fotoapparats und der Impressionismus in der Kunst zeitlich zusammenfielen. Die Impressionisten waren gezwungen eine Technik zu entwickeln, die Motive abbildet, die der Fotoapparat (noch) nicht einfangen konnte. Wie den Dampf einer Lokomotive. Diese Geschichte fand ich spannend und war in meiner Geisteslandschaft relevant. Und ich weiß sie noch heute. Wenn Lehrer daran arbeiten, die Relevanz der Sache in den Köpfen der Schüler zu entdecken, werden sie ungeahnte Wunder erfahren.

Übrigens hatte ich beim Zurückfahren Rückenwind und von hinten rief ein hörbar lachendes Gesicht: "30 km/h!"

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